Wenn nachts die Kampfhunde spazieren gehen
Das Cover im abendlichen Stadtverkehr mit diffusem Scheinwerferlicht passt kaum zum Buchinhalt. Selbst der Titel des Familienromans touchiert nicht den Inhalt um das Miteinander von dominanter Mutter und ihren zwei unterschiedlichen Töchtern. Ohne innige emotionale Beziehung, aber doch mit großen Hoffnungen und Erwartungen auch bezüglich ihres äußeren Erscheinungsbildes wachsen Antonia und Wanda in Bielefeld in bürgerlichen Verhältnissen auf. In drei Teilen kämpft die verbitterte Hauptperson, deren Mutter Regina Richter ab 1998 gegen ihr immer öfter hereinbrechendes Gefühl der Leere an. Während sämtliche männlichen Nebenfiguren hier unwichtig sind, treibt Reginas forderndes Selbstbewusstsein und ihre perfektionistische Erwartungshaltung gegenüber ihren Töchtern diese in ein unglückliches Dasein voller Stress und Magersucht. Das Vorgehen des Kinderarztes Dr. Peiffer hinsichtlich Wandas Essstörung ist authentisch beschrieben, aber sicher nicht psychologisch ausreichend, diesem Missstand abzuhelfen. Während Antonia von ihrer Mutter bis zu deren Krebserkrankung kein Verständnis oder Liebesbekundungen sucht, steht zwischen Wanda und Regina immer noch Erwartung, Anforderung, vielleicht sogar Konkurrenz. Über zwanzig Jahre wird die unerbittliche Verbissenheit Reginas, Psychotherapeutin, gut beschrieben, wie sie ihre erwachsenen Töchter überfordert, demütigt, verunsichert und letztlich krankmacht. Manch frustrierte, depressive Mutter könnte sich von Reginas Problematik persönlich angesprochen fühlen, mit verpasster Karriere wegen Mann und bzw. oder Kind. Wie sehr Wunsch und Wirklichkeit auseinanderklaffen und Beziehungen über Generationen hinweg stark belasten können, kann anschaulich hier verfolgt werden. Starke Charakteren – wenn auch nicht unbedingt sympathisch, und treffender Sprachstil.
1998 ist Regina einundfünfzig. Sie hat für ihre Töchter alle Träume aufgegeben, hat auf eine akademische Laufbahn verzichtet. Es grämt sie nachhaltig, dass ihre Eltern ihr, trotz der Intelligenz nach dem Abitur keine Unterstützung haben zukommen lassen. Nachdem sie als junge Frau herbe Rückschläge und Enttäuschungen mit Männern hinnehmen musste heiratete sie Edgar, seiner Ruhe, Zuverlässigkeit und Langweiligkeit wegen. Regina hat große Pläne für ihre Töchter. Sie ist sicher, dass beide erfolgreich studieren werden. Welche junge Frau wollte das heutzutage nicht, wenn sie es könnte?
Bei der Abi-Abschlussfeier ihrer älteren Tochter Antonia spielt diese ein Querflötensolo. Leider merkt Regina nicht, dass sie es seit Jahren übt und blickt betreten zu Boden. Edgar neben ihr wippt mit dem Fuß. Im Foyer bestaunt Regina die alabasterfarbene Haut Antonias, ihren schlanken aber weichen Körper. Sie ist nicht wie ihre sportliche Schwester Wanda, die ganz klar nach Regina kommt. Sie treffen auf die Berufskollegin Giselle, Professorin der Psychologie, die ihr in schlecht sitzendem Anzug eine frei gewordene Dozentur ans Herz legt. Als Regina zu Edgar ins Auto steigt schäumt sie vor Wut, sie fühlt sich von Giselle verhöhnt, denn die wisse genau, dass die Stelle ein Studium voraussetzt.
Wanda will im Gegensatz zu ihrer Schwester in allem die Beste sein. Tennis, Jazzdance, kaum Alkohol, kein Nikotin helfen ihr dabei, Regina zu gefallen. Seit ihre Mutter andere Frauen im Schwimmbad als Schlachtrösser bezeichnet, isst Wanda so wenig wie möglich. Ein Blick von ihrem Freund, den sie nicht zu deuten weiß, reicht aus damit sie sich dick fühlt.
Fazit: Anna Brüggemann erzählt mit feinsinnigem Gespür die innerfamiliäre Dynamik. Regina, die glaubt in allem zu kurz gekommen zu sein. Sie überträgt ihren Mangel an Liebe und Wertschätzung auf die Töchter, deren Selbstbild rissig wird. Die Autorin zeigt mir Reginas exorbitante Erwartungen und den Hochmut, indem sie mir ihre Gedanken zeigt. Dabei entsteht das Bild eines Charakters, der mehr als unangenehm ist. Sie ereifert sich bissig über ihre Mitmenschen und zeigt sich verbal übergriffig gegen ihre Töchter. Das Buch schildert die Thematik des weiblichen Narzissmus mit Bravour. Die Lieblosigkeit, befeuert durch das beißende Gefühl, nie das zu bekommen, was einem zusteht ist unter Frauen der Nachkriegsgeneration weit verbreitet und prägt die folgende Generation. Deshalb bin ich froh, dass die Autorin die Mechanismen so brillant aufzeigt. Der Leidensdruck aller Beteiligten ist riesig und darüber muss man sprechen. Ein großartiges Buch, das mich von der ersten Seite an nicht mehr losgelassen hat. Bleibt nur zu wünschen, dass viele, die unter ihren Müttern leiden, dieses Buch -trotz des sperrigen Titels- finden werden.
Eine narzisstische Mutter und ihre beiden Töchter
Regina, Jahrgang 1948, wird Anfang der 1980er Jahre Mutter zweier Töchter: Wanda und Antonia. Sie arbeitet als psychologische Psychotherapeutin in einer eigenen Praxis, lebt mit Edgar in einer soliden, aber eher leidenschaftslosen Ehe und definiert sich über ihre Intelligenz, ihren Erfolg und ihre schlanke Figur. Kritisch und erbarmungslos richtet sie ihren wertenden Blick auf alle Menschen in ihrem Umfeld, besonders auf andere Frauen, und auf ihre Töchter. Von der stillen, einfühlsamen und etwas pummeligen Antonia ist sie maßlos enttäuscht. Wanda hingegen ist mehr eine Tochter nach ihren Erwartungen, sehr dünn und hübsch, hochintelligent und ehrgeizig, ein Ebenbild der Mutter in allen Bereichen. Dass Wanda eine ernsthafte Essstörung entwickelt und ebenfalls an den unerfüllbaren Erwartungen an sie leidet, will die Mutter lange nicht sehen, und ihren eigenen Anteil daran leugnet sie bis zuletzt.
Das knapp 400 Seiten lange Buch ist in drei Teile geteilt. Der erste Teil, knapp 200 Seiten, beschreibt die Familie im Jahr 1998 und im Jahr danach, als erst Wanda und dann Antonia Abitur machen. Der zweite Teil, etwa 100 Seiten, spielt im Jahr 2010: die Töchter sind um die 30, die Eltern sind deutlich älter geworden. Und schließlich begleiten wir die Familie auf den letzten 100 Seiten durch die Jahre 2019 bis 2020, bis zum Beginn der Coronapandemie. Beide Töchter werden auch selbst Mütter und wir erleben auch mit, wie sie nun mit ihren eigenen Kindern umgehen.
Es ist also auch neben einer Mutter-Töchter-Erzählung auch eine weibliche Entwicklungsgeschichte und wir erleben die Hoffnungen, Träume, Ziele, Pläne, aber auch Rückschläge und Enttäuschungen der drei Frauen über mehr als zwei Jahrzehnte mit. Begleiten die beiden Mädchen von der Teenagerzeit bis in ihre 40er-Jahre und erleben mit, wie sie sich schrittweise zu eigenen Persönlichkeiten entwickeln und nach und nach auch die Kraft entwickeln, der dominanten und urteilenden Mutter zumindest ein bisschen die Stirn zu bieten und für ihre eigenen Lebensentwürfe einzustehen.
Insgesamt ist es ein sehr interessantes und psychologisch feinsinniges Buch für alle, die sich für Mütter-Töchter-Beziehungen, für Entwicklungsromane und auch für die Unterschiede zwischen verschiedenen Generationen interessieren. Ich bin etwas jünger als die beiden im Buch vorkommenden Töchter und kenne viele Frauen aus der Generation von Regina - in vielem habe ich die Spannungen vieler Frauen meiner Generation im Verhältnis zu ihren Müttern wiedererkannt.
Da wird im Buch sehr gut aufgezeigt, welche Schattenseiten gerade auch die Anspruchshaltung an Frauen, sie sollten stark sein und alles verwirklichen, sollten gleichzeitig die traditionell männlich wie die traditionell weibliche Rolle erfüllen, beruflich sehr erfolgreich, intelligent, leistungsfähig und stark sein, aber auch die Familie im Griff haben und sich niemals schwach zeigen, mit sich bringt. Wie diese Sozialisierung oft zu Lasten des Zulassens der eigenen Emotionen, aber auch des Mitfühlens mit anderen geht, und damit echte Beziehungen zu anderen, auch zu den eigenen Kindern, unmöglich macht. Solche durch die gesellschaftlichen Umstände narzisstisch geprägten Frauen wie Regina gibt es viele, und auch viele ihrer Töchter, die ähnlich darunter leiden wie Antonia und Wanda. Hier ist das Buch also sehr authentisch und wirklich gelungen.
Insbesondere die zweite Hälfte des Buches hat mich beim Lesen auch sehr gefesselt. Auf den ersten 100 bis 150 Seiten hingegen war mir das Buch etwas zu langatmig, gerade die allererste geschilderte Lebensphase, um die Abiturzeit der beiden Mädchen herum, wird ausführlichst geschildert, ohne dass die Handlung wirklich viel voranschreitet. Anfangs war ich mir deshalb gar nicht sicher, ob ich das Buch wirklich zu Ende lesen will, rückblickend bin ich aber nun froh darüber und es ist in den späteren Abschnitten deutlich spannender geworden.
Ein Detail finde ich auch eher unrealistisch bzw. möglicherweise nicht so genau recherchiert: Reginas psychotherapeutische Privatpraxis wird als der leichtere Karriereweg im Vergleich zu einer wissenschaftlichen Karriere dargestellt, als etwas, das Regina halt neben den Kindern noch schnell erreichen konnte, während ein Doktoratsstudium zu dieser Zeit nicht mehr möglich gewesen wäre. Es wird beschrieben, dass Regina als junge Frau erst jahrelang ziellos Lehramt studiert hätte, dann Jahre in Südamerika verbracht hätte und danach dann noch schnell Psychologie studiert und Psychotherapeutin geworden wäre, während sie schon Anfang 30 ihre zwei Kinder bekommen habe.
Wer sich mit dem Psychologiestudium und der darauf folgenden anspruchsvollen postgraduellen Ausbildung auch nur ein bisschen auskennt, weiß, das ist zeitlich sehr unrealistisch, auch wenn man intelligent und ehrgeizig ist wie Regina. Und selbst wenn, dann bedeutet ein Psychologiestudium samt mehrjähriger psychotherapeutischer Weiterbildung einen Aufwand, der in Summe sicher nicht geringer ist als ein Psychologiestudium plus Doktorat. Wer das gemacht hat, so wie Regina in dem Buch, der würde das wissen, insofern wirkt das etwas unrealistisch. Zur narzisstischen Persönlichkeit Reginas passt es natürlich, dass sie sich unzulänglich fühlt und das Gefühl hat, ihr überragendes Talent beruflich nicht genug verwirklicht zu haben, doch hätte sich hier vielleicht ein passenderes Beispiel finden können.
Abgesehen von diesem Detail und dem, wie gesagt, etwas langatmigen ersten Teil, ist es aber ein durchaus sehr gelungenes und psychologisch tiefgründiges, authentisches Buch, das zum Nachdenken anregt. Wohlfühlbuch ist es aber eher keines, dafür sind die vorkommenden Konflikte zu heftig und insbesondere Regina in ihrer Unbarmherzigkeit deutlich zu unsympathisch.
Es ist ein gutes Buch, aber kein sonderlich schönes. Dazu passt dann wiederum auch wieder der etwas sperrige Titel, auf den im Buch nur kurz Bezug genommen wird und der sich erst bei genauerem Darüber-Nachdenken als Metapher erschließt.